Wirtschaftsnobelpreis 1995: Robert Emerson Lucas

Wirtschaftsnobelpreis 1995: Robert Emerson Lucas
Wirtschaftsnobelpreis 1995: Robert Emerson Lucas
 
Der Amerikaner erhielt den Nobelpreis für seine Formulierung der Theorie rationaler Erwartungen, die das Verhalten der verschiedenen Teilnehmer am wirtschaftlichen Geschehen beschreibt.
 
 
Robert Emerson Lucas jr., * Yakima (Washington) 15. 9. 1937; 1970-75 Professor für Wirtschaftswissenschaften in Pittsburgh, seit 1975 Professor für Ökonomie in Chicago; Mitbegründer des modernen Makroökonomik.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Mit Robert Lucas zeichnete die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften einen der gegenwärtig bedeutendsten Nationalökonomen mit dem Nobelpreis aus. Robert Lucas, der zurzeit an der University of Chicago forscht und lehrt, erhielt diese Auszeichnung im Alter von 58 Jahren »für die Entwicklung und Anwendung der Hypothese rationaler Erwartungen und für seine grundlegende Veränderung der makroökonomischen Analyse und der Auffassung von Wirtschaftspolitik«. Das Preiskomitee würdigte insbesondere die klare Schärfe und den umfassenden Charakter der von Lucas vorgelegten theoretischen Modelle, mit denen er die Entwicklung der Nationalökonomie in den letzten 25 Jahren entscheidend vorangetrieben hat.
 
 Rationale Erwartungen
 
Robert Lucas wandte sich erst nach einigen akademischen Umwegen der wirtschaftswissenschaftlichen Disziplin zu. Ausgestattet mit einer Studienförderung der University of Chicago verließ Lucas bereits im Alter von 17 Jahren sein Elternhaus in Seattle, um ein Ingenieurstudium aufzunehmen. Da Chicago allerdings keinen ingenieurwissenschaftlichen Studiengang vorsah, belegte er zunächst das Fach Mathematik, bevor er Geschichte zu seinem Hauptfach wählte. Nach Abschluss des Studiums 1959 trat er mithilfe eines Stipendiums ein Graduiertenstudium der Geschichte in Berkeley an. Parallel dazu belegte er Kurse in Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftstheorie, die ihn von Beginn an stark interessierten. Sehr bald beschloss er, zur Volkswirtschaftslehre zu wechseln. Nach Chicago zurückgekehrt nahm er 1960 ein volkswirtschaftliches Graduiertenstudium auf, das er 1964 mit der Promotion abschloss.
 
Rückblickend lässt sich sagen, dass zwei glückliche Umstände in dieser Zeit den weiteren Werdegang von Lucas prägten. Durch die intensive Beschäftigung mit Paul Samuelsons (Nobelpreis 1970) Arbeiten erwarb er zum einen das ökonomisch-methodische Rüstzeug, um ökonomische Fragen korrekt zu formulieren. Zum anderen besuchte Lucas Vorlesungen von Milton Friedman (Nobelpreis 1976), dessen logische Durchdringung makroökonomischer Themen ihn fesselte und dessen Gedanken er stets in Mathematik umzusetzen versuchte. Insbesondere Friedmans Kritik an der bis dahin in der Volkswirtschaftslehre vorherrschenden keynesianischen Lehre, die staatliche Eingriffe zur Steuerung gesamtwirtschaftlicher Abläufe grundsätzlich für sinnvoll und wirksam erachtete, fiel bei Lucas auf fruchtbaren Boden.
 
Seit Ende der 1960er-Jahre entwickelte Lucas mit dem Konzept rationaler Erwartungen ein Gedankengebäude, das die wissenschaftliche Beurteilung dessen, was die Wirtschaftspolitik zu tun imstande ist und was nicht, nachhaltig veränderte. Das Konzept besagt, dass Haushalte, Unternehmen und Organisationen die ihnen zur Verfügung stehenden Informationen effizient bei ihren Planungen berücksichtigen. Das bedeutet nicht, dass Wirtschaftssubjekte mit rationalen Erwartungen bei Einzelentscheidungen keine Fehler machen. Sie begehen aber im Durchschnitt weniger Fehler als solche Wirtschaftssubjekte, die andere Formen der Erwartungsbildung bevorzugen und beispielsweise vorangegangene Ereignissen als Entscheidungsgrundlage verwenden.
 
 Inflation und Beschäftigung
 
Großen Einfluss hatte die Theorie rationaler Erwartungen auf die ökonomische Interpretation der Phillips-Kurve, die einen positiven Zusammenhang zwischen Inflation und Beschäftigung unterstellt und bis Ende der 1960er-Jahre eine Vielzahl wirtschaftspolitischer Optionen suggerierte. Danach sei es Regierungen und Zentralnotenbanken möglich, durch expansive Maßnahmen die Beschäftigung dauerhaft zu erhöhen, wenngleich dafür eine höhere Inflationsrate in Kauf genommen werden müsste.
 
Lucas zeigte, dass jeder systematische Versuch, Beschäftigungsgewinne auf diesem Weg zu erkaufen, vergeblich ist, wenn die Wirtschaftssubjekte ihre Erwartungen an die höheren Inflationsraten angepasst hätten. Beispielsweise wären in Lohnverhandlungen höhere Nominallohnforderungen der Arbeitnehmer die Folge expansiver Politik. Die Phillips-Kurve bleibe unter solchen Umständen nicht stabil, sondern verschiebe sich, das heißt eine gleichbleibende Arbeitslosigkeit gehe mit einem Anstieg des allgemeinen Preisniveaus einher. Schon bald bestätigten die hohen Inflationraten in vielen Industriestaaten der 1970er-Jahre die Prognosen von Lucas.
 
Lucas zeigte darüber hinaus, dass die unkritische Anwendung ökonometrisch nachgewiesener Wirkungszusammenhänge auf die konkrete Wirtschaftspolitik höchst problematisch ist. Ökonometrischen Modellen liegen optimale Entscheidungsregeln der Wirtschaftssubjekte zugrunde. Erkennen rationale Wirtschaftssubjekte einen möglichen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik, passen sie sich in ihrem Verhalten den veränderten Rahmenbedingungen an. Damit ändert sich freilich, so die mittlerweile allgemein akzeptierte Lucas-Kritik, auch die Struktur des ökonometrischen Modells. Prognosen hinsichtlich der Wirkungen wirtschaftspolitischer Maßnahmen seien daher mit größter Unsicherheit behaftet. Pointiert formuliert bedeutet dies, dass alle Versuche staatlicher Konjunkturpolitik ins Leere laufen, wenn der private Sektor rationale Erwartungen bildet.
 
Lucas, der 1974 nach Chicago zurückkehrte und seitdem dort tätig ist, verfasste außerhalb des Gebiets der Makroökonomik zahlreiche weitere herausragende Beiträge, in denen er sich mit Fragen der Geldtheorie, der Finanzwirtschaft und der Finanzwissenschaft beschäftigte. Seit Mitte der 1980er-Jahre forscht Lucas schwerpunktmäßig im Bereich der Wachstumstheorie. Nahezu zeitgleich, aber unabhängig voneinander, initiierte er mit seinem amerikanischen Kollegen Paul Romer die endogene Wachstumstheorie. Die kontrovers diskutierte Theorie versucht, Wirtschaftswachstum aus dem Modell heraus und nicht durch exogene Faktoren wie den technischen Fortschritt zu erklären.
 
Welch weit reichenden Einfluss die Hypothese rationaler Erwartungen auch im alltäglichen Leben besitzt, konnte Robert Lucas schließlich im Zusammenhang mit der Nobelpreisverleihung selbst erfahren. 1982 trennte sich Lucas von seiner Frau Rita Cohen, 1989 wurden sie geschieden. Rita Cohen ließ dabei im Scheidungsvertrag »rational« festhalten, dass ihr die Hälfte des Preisgeldes zustehe, falls ihr Mann den Nobelpreis erhalte. Lucas stimmte zu, weil er wohl nicht ernsthaft daran gedacht hatte, dass dieser von ihm insgeheim erhoffte Fall tatsächlich innerhalb der vorgegebenen Frist eintreten sollte. Am 10. Oktober 1995 erhielt Lucas den Nobelpreis und Rita Cohen kassierte.
 
G. Schmid

Universal-Lexikon. 2012.

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